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Mit den Augen Musik hören

Ein Konzert besuchen, die Stimmung und die Musik einsaugen: Für viele Menschen ist dies selbstverständlich, aber nicht für alle. An den diesjährigen Winterthurer Musikfestwochen wird ein Konzert in Gebärdensprache übersetzt.

Laut dem Schweizerischen Gehörlosenbund leben in der Schweiz rund 10 000 Menschen, die seit der Geburt gehörlos sind. Dieses Jahr wird das Konzert von «Phenomden» am 17. August 2022 in Winterthur in Gebärdensprache übersetzt. Der Zugang zum Konzert für Gehörlose wird vom ehrenamtlichen Verein MUX, Musik und Gebärdensprache, organisiert. Der Verein veranstaltet seit dem Jahr 2000 musikalische Erlebnisse für Gehörlose.

«Das Ziel ist es fünf Konzerte pro Jahr in der Deutschschweiz zu organisieren»

Das sei das Ziel, so Lilly Kahler, Vorstands-und Gründungsmitglied von MUX. Mehr sei nicht möglich, da das Budget nicht reiche. Manchmal kommen Gehörlose auf den Verein zu und fragen nach, ob es einen Konzertzugang für sie gibt. Oder der Verein schaut sich nach geeigneten Konzerten bzw. Partnerschaften um. MUX verbindet die drei Elemente Musik, Gebärdensprache und Menschen. Sie planen und koordinieren die Termine mit den Veranstaltern. Es wird professionelle Übersetzungsarbeit von ausgebildeten Dolmetscher:innen angeboten, die die Gebärdensprache beherrschen.

Die Vorbereitungszeit ist entscheidend

Jedoch gilt zu beachten, dass dies nicht immer möglich ist. Eine ideale Vorbereitungszeit auf ein Konzert hin beträgt drei Monate. «Manchmal müssen die Dolmetscher:innen die Texte in drei Wochen lernen, dies gleicht jeweils einem Kamikaze Einsatz», betont Kahler. Für den Verein ist die optimale Richtzeit für einen Song fünf bis sechs Stunden. Ein Lineup eines Livekonzertes besteht meistens aus 20 Liedern. Diese werden aber auf zwei Dolmetscher:innen aufgeteilt. Die Übersetzenden müssen auch die Sprache der Jugendlichen mit einem Gehör-Defizit beherrschen. Diese sprechen, wie ihre anderen Altersgenossen, oftmals auch einen eigenen Slang. Eine Schwierigkeit nicht für die Übersetzter, sondern für das Organisieren ist, dass die Musiker oder Bands sich nicht gewöhnt sind die Bühne mit jemandem zu teilen. Die Reaktionen des Publikums waren bis jetzt jedoch durchwegs positiv.

Der Wandel der Zeit

Die Gebärdensprache kämpft trotz Aufklärungskampagnen durch den Schweizerischen Gehörlosenverbund SGB mit Vorurteilen. Die Gebärdensprache ist eine vollwertige Sprache und wird in verschiedenen Dialekten angewendet. Der amerikanische Sprachwissenschaftler William C. Stokoe hat als erster die Amerikanische Gebärdensprache untersucht. Seit dann ist klar, dass es sich bei der Gebärdensprache um eine natürliche Sprache mit einer eigenen Grammatik, eigenen Sprichwörtern und eigenen Dialekten handelt. Auch mit den verschiedenen Dialekten versteht man sich in der Gebärdensprache problemlos. So kann man sich auch international mit bildhaften Gebärden gut untereinander verständigen.

Die Technik machts möglich

Die klassische Musik lebt zum Beispiel nur von der Komposition an sich, den unerwarteten Variationen und den Solis. Um auch die Hochkultur für Menschen mit beeinträchtigtem Hören zugänglich zu machen, entwickelte die Agentur Jung von Matt aus Deutschland einen Anzug, welcher die Vibrationen der Instrumente direkt auf den Körper überträgt. «Die Technik vermag Vibrationen zu übertragen, für einen Inhalt mit Worten benötigt es dennoch Dolmetschende», sagt Lilly Kahler vom Verein MUX.

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Kathrin Lippuner, 09.08.2022