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Wenn Lesen nur ein Buchstabensalat ist

Kampf mit den Buchstaben: In der Schweiz gibt es 800’000 Menschen, die trotz langjähriger Schulbildung nicht über die zu erwartenden Lese- und Schreibkompetenzen verfügen. Dadurch wird ihr Alltag und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben stark eingeschränkt. Mit dem heutigen Weltalphabetisierungstag möchte die UNESCO auf die Problematik des Analphabetismus aufmerksam machen.

Das Wort «Illetrismus» beschreibt ein komplexes Phänomen: Erwachsene beherrschen die Grundfertigkeiten des Lesens und Schreibens nicht, obwohl sie die obligatorische Schulzeit hinter sich haben. Ein Illetrist kennt die Buchstaben, kann jedoch selbst kurzen Sätzen keinen Sinn entnehmen.

Nichts mit Dummheit zu tun

Die betroffenen Personen sind aber nicht einfach dumm. Schreiben und Lesen lernen wir während mehrerer Jahre, es ist etwas der abstraktesten Dinge überhaupt. Dieser Lernprozess kann durch verschiedene Faktoren beeinflusst werden. «Man darf nicht mit dem Finger auf die Schule zeigen, es gibt in dem Sinne keinen Schuldigen. Die Ursachen sind vielfältig, dass diese Personen zwischen Stühle und Bänke gefallen sind in der Schulzeit», sagt Tonja Bollinger vom Schweizer Dachverband Lesen und Schreiben. Es können beispielsweise gesundheitliche Ursachen vorliegen, wenn eine Seh- oder Hörschwäche in frühen Jahren nicht erkannt wurde. Aber auch Konzentrationsschwierigkeiten oder einschneidende Ereignisse im privaten Umfeld sind mögliche Faktoren.

Quelle: Unsplash, Jessica Lewis

 

Wenn ein Rezept zur Hürde wird

Die Flut an schriftlichen Dokumenten heutzutage erschreckt schon Personen ohne Leseschwäche, für Illetristen ist sie kaum zu bewältigen. Gewisse Situationen im Alltag stellen für Menschen mit einer Lese- oder Schreibschwäche eine grosse Herausforderung dar. Sei es ein Einkaufszettel, eine Zutatenliste oder ein Onlineformular für einen neuen Pass. «Ein Gericht nach Rezept zu kochen, kann schon eine Schwierigkeit sein. Oder ein Medikament richtig zu dosieren, wenn man die Packungsbeilage nicht richtig lesen kann oder diese zu kompliziert geschrieben ist.» Tonja Bollinger zählt weitere Beispiele auf, dabei hänge es jeweils immer von der Ausprägung der Leseschwäche ab. Nicht bei allen sei es gleich, je nachdem habe jemand mehr oder weniger Mühe. Es gebe auch Personen, die Schwierigkeiten mit Zahlen haben. «Im Laden einen Rabatt auszurechnen, das ist vielleicht nicht möglich. Im täglichen Leben kommen Personen mit Lese- oder Schreibschwächen wirklich schneller an Herausforderungen.»

Quelle: Pexels, Oleg Magni
Job ohne schreiben?

Wie andere Personen auch, gehen auch Leute mit einer Lese- oder Schreibschwäche einer Arbeit nach. Im Arbeitsalltag werden sie ebenfalls nicht verschont von schriftlichen Belangen. Die Hürden seien unvermeidbar, sagt Tonja Bollinger. «Wenn sie beruflich ein Protokoll schreiben müssen und dann viel länger dafür brauchen. Oder dass sie Informationen nicht so schnell lesen können. Bei langen Texten vielleicht sogar den Zusammenhang gar nicht verstehen.»
Es gebe auch Betroffene, die beispielsweise eine Beförderung nicht annehmen würden. «Sie haben Angst, dass sie der neuen Herausforderung nicht gewachsen sind, weil sie womöglich mehr schreiben müssten.»

Quelle: Pexels, Energepiccom

 

Fluch und Segen der Digitalisierung

«Die Digitalisierung ist einerseits eine Chance, andererseits aber wieder eine Herausforderung.» Tonja Bollinger beschreibt auf der einen Seite die Vorteile: Es gibt hilfreiche Apps, die beim Schreiben unterstützen oder auch ein Vorlese-Tool auf einer Webseite. Die Kehrseite sei, wenn eine Internetseite  nicht darauf ausgerichtet sei, so überfordere die Masse an Text Personen mit einer Leseschwäche extrem.

Corona als Katalysator

Mit Corona kam auch der Fernunterricht. «Eltern, die selber in den Grundkompetenzen Mühe haben, können ihre Kinder zu Hause nicht unterstützen.» Tonja Bollinger sieht in der Coronazeit dieselben Probleme im Alltag wie sonst, einfach verstärkt. Für alle Familien sei die Situation belastend gewesen, für Familien, in denen Elternteile eine Lese- oder Schreibschwäche haben, einfach noch mehr. «Dort gibt es eine Art Rattenschwanz: Denn diese Kinder bekommen zu Hause weniger Unterstützung und haben eine Lücke. Dies führt später dann womöglich zu schulischen Problemen.» Weiter sei der Informationsfluss während der Coronazeit noch schriftlicher geworden. Der direkte Kontakt zu Leuten wurde minimiert.

Quelle: Pexels, Julia M Cameron
Vertuschen ist keine Lösung

Betroffene verheimlichen ihre Schwierigkeiten oft. Menschen in ihrem Umfeld deuten ihre Handlungen und Reaktionen dadurch falsch. «Das ist dann ein Teufelskreis. Es sieht dann schnell aus, als wäre jemand faul, weil er vielleicht etwas nicht macht. Ich denke, es ist wichtig, dass man darüber spricht und transparent ist.» Nur dann könnten Lösungen gefunden werden, meint Tonja Bollinger. «Dadurch, dass es so ein Tabuthema ist, versuchen Betroffene es halt zu verstecken.»

Quelle: Pexels, Andrea-Piacquadio
Das Thema angehen

Tonja Bollinger wünscht sich, dass der Zugang zur Erwachsenenbildung für Leute mit Lese- oder Schreibschwächen möglichst einfach und niederschwellig gestaltet wird. Es solle viele Kurse in der ganzen Schweiz geben, diese müssten auch finanziert werden. «Es soll öffentlich auf das Thema aufmerksam gemacht werden, denn ein grosses Problem ist auch die Stigmatisierung. Und die Betroffenen sollen wissen, dass es diese Kurse gibt und sie ihr Leben durch das Verbessern der eigenen Grundkompetenzen vereinfachen können.»