Wer dem Thermals-Frontmann Hutch Harris auf wenigstens einem seiner Social-Media-Kanäle folgt, der hat im grauen Alltag ordentlich was zu schmunzeln: An die bevorstehende Grammy-Nacht erinnert er auf Facebook mit einem Foto der Showbiz-Fake-Hanseln Milli Vanilli, gratuliert dem verstorbenen Kurt Cobain jüngst zum Geburtstag mit einem Foto des jungen Brad Pitt, disst Kanye West zu dessen neuem Album auf Twitter quasi täglich mit bissigen Sprüchen wie «Kanye’s going to produce all upcoming Beatles-Albums!» oder zwitschert Freundlichkeiten wie «We should get rid of nickles and just use Nickelback CDs instead.»
Ja, Harris, der singende Spargeltarzan, hat irgendwo Humor. Dieser äusserte sich auf den sechs bisherigen Platten seiner Band The Thermals mitunter in herrlich beissendem Sarkasmus, oder, wie im Falle des grossartigen «The body, the blood, the machine» in keifend politischen Widerhaken und schonungsloser Gesellschaftskritik. So wütend, kreativ und toll waren die Nachfolger «Now we can see» und «Personal life» nicht mehr, hier aber bedienten The Thermals unter gütiger Mithilfe von Ex-Death-Cab-Mann Chris Walla und ihrer trocken-staubige Mischung aus Indie und Punkrock das Campus-Radio, welches Hits der Marke «I don’t believe you» nur zu gerne verwertete. «Hey you», die maximal nette Single zur siebten Thermals-Platte «We disappear», und «Thinking of you», ein weiterer Appetithappen, erweckten im Vorfeld die Annahme, dass der Dreier aus Portland mit dem kratzigen Pinsel des Vorgängers «Desperate ground» auch der neuen Platte Staub aufpinseln würden.
Doch das trifft nicht zu, zumindest nicht im Ganzen. Genügend Dreck wirbelt «We disappear» trotz Wallas Rückkehr an die Regler zwar auf, doch das Album ist nicht immer geradlinig, sondern gibt sich gerade im Mittelteil eher zäh als poppig – im positiven Sinne. Die Songs offenbaren dabei mehr als nur einen Blick hinter die Fassade des Texters, versprühen aber weitaus weniger Zuversicht als üblich. Harris scheint in den Monaten, als die neuen Stücke entstanden, seelische Hügellandschaften mit markanten Abstiegen durchwandert zu haben. Sprachen «Our love survives» oder «Your love is so strong» von den Vorgängern noch voller Vertrauen und Zuversicht, beschreibt “We disappear” deutlich negativere Befindlichkeiten: Songtitel wie «Thinking of you», «The walls» und «Always never be» stehen nicht nur symbolisch für diese Entwicklung.
Das melancholische «If we don’t die today» mit seinem zurückhaltenden, aber deutllichen Gitarrenthema trägt auch musikalisch Züge der stärker werdenden Verzweiflung. Gesteigert wird das nur noch vom intensiven Quasi-Titelstück «The great dying», das die ganz und gar nicht rosige Zukunft antizipiert und dabei die Eliminierung der Menschlichkeit anprangert. Verschrobene Pixies-Gitarren heulen leise zum jüngsten Gericht. So ist «We disappear» im The-Thermals-Kontext nicht durchweg erwartbar, mitunter etwas verstörend, aber wiederum erneut faszinierend geraten. Ach, und da ist ja noch «My heart went cold», der offensichtlichste Ohrwurm der Platte, der das erkaltete Herz kontrastreich mit musikalischer Euphorie überdeckt. Ganz ohne Unterhaltung geht’s bei Harris dann eben doch nicht. Zum Glück.
(Quelle: plattentests.de)
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Single «Hey You»