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Justin und Shayen gingen in den...

Der graue November ist wie gemacht für Märchen. Wir haben uns auf die Suche nach den beliebtesten Märchen gemacht und sie für euch modernisiert. Entstanden ist eine Reihe von Märchen der heutigen Zeit. Als dritten Teil präsentieren wir euch Justin und Shayen.

Es war einmal ein Vater mit seinen zwei Kindern – Justin und Shayen – und einer Stiefmutter. Der Vater hat sich nach einer Fremdgeh-Aktion der leiblichen Mutter, von ihr scheiden lassen. Gemeinsam wohnten sie am Rande eines grossen Industriegebietes. Die Familie war arm, denn der Vater hatte auch das Wenige, welches er besass, an der Börse verzockt. Von Tag zu Tag wurde das Bio-Brot knapper und bald mussten sie sich mit Weizentoast aus dem Volg vergnügen. Eines Abends dachte der Vater im Bett laut nach: «Ou Babe, kein Plan wie das Ganze weitergehen soll. Wir können doch nicht weiterhin diesen Billig-Toast essen». Die Frau meinte darauf: «Weisst du was, morgen gehen wir mit den Kindern im Industriegebiet nach Altmetall suchen. Um die Mittagszeit geben wir ihnen die letzten Toast-Reste zu essen und lassen sie zurück.» Der Vater darauf empört: «No Way, das können wir nicht bringen. Ich liebe sie.» Die Stiefmutter antwortete agro: «Du bist so ein Lauch. Willst du, dass wir verhungern?» Der Vater willigte ein. Im Nebenzimmer hatten die Kinder den ganzen Deep-Talk mitbekommen. Sie konnten nämlich vor lauter Hunger nicht einschlafen. Shayen weinte bittere Tränen: «Was wird aus meinem Traum, Influencerin zu werde?» Justin versuchte sie zu beruhigen: «Sei nicht so eine Dramaqueen, Shayen.» Justin hatte nämlich schon eine Idee. Er schlich sich mit fetten Kuschelsocken in das Büro des Vaters. Nach einer Weile fand er, was er suchte: Die Handychips der alten Prepaidkarten. Unbemerkt ging er wieder in sein Zimmer und schlief friedlich ein.

Quelle: Marco Verch, CC BY 2.0

Ausflug ins Industriegebiet

Am nächsten Morgen wurden die Kinder bei Sonnenaufgang von ihrer Stiefmutter geweckt: «Steht auf ihr Chiller, wir gehen in das Industriegebiet Altmetall suchen.» Auf dem Weg dorthin liess Justin ein Handychip nach dem anderen aus seinen Low-Waist-Jeans fallen. Im Herzen des Industriegebietes angekommen, holte der Vater ein Öl-Fass, machte ein Feuer darin und gab den Kindern jeweils eine Toastscheibe. Danach verabschiedete er sich traurig. Justin und Shayen assen ihren Toast und schliefen ein. Erst als es stockfinster war, wachten sie wieder auf. Die Strassenlaternen waren ausgeschaltet und man sah gerade noch einen ausgepowerten Industriearbeiter mit einem VW Golf wegfahren. Shayen begann wieder zu weinen. Schnell legte Justin seine Hand auf ihren Mund: «Bitte hör auf. Ich zeig dir den Weg nach Hause». Es war an diesem Tag Vollmond und die Handychips, welche Justin auf dem Weg gestreut hatte, reflektierten. Nach einer Weile kam das Geschwisterpaar zu Hause an. Sie fielen dem Vater in die Arme, während die Stiefmutter cringe dort stand. Es vergingen einige Tage und schon wieder war man kurz vor dem Aus. Die Stiefmutter meinte eines Abends im Bett zum Vater: «Wir haben nur noch eine halbe Toastpackung. Wir müssen die Knirpse loswerden.» Nach einem elend langen Monolog und zwei Mindmaps knickte der Vater wieder ein. Im Nebenzimmer hatten die Kinder erneut den ganzen Talk mit geschnitten. Justin wollte zum zweiten Mal in das Büro schleichen. Doch die asoziale Stiefmutter hatte snitch-mässig die Zimmertür verschlossen. Shayen heulte und machte daraus wieder einen Maincharakter-Moment. Justin verdrehte die Augen und tröstete seine Schwester: «Keine negativen Vibez. Easy Peasy Lemon Squeezy.»

Quelle: pexels.com, Marcin Jozwiak

Und noch einmal von vorne

Bei Sonnenaufgang wurden die Kinder von der Stiefmutter geweckt. Sie erhielten wieder Toast. Doch diesmal nur jeweils eine halbe Scheibe. Die Eltern führten die Kinder noch tiefer in das Industriegebiet. Auf dem Weg verteilte Justin seine halbe Toastscheibe. Der Vater machte den Kindern in einem Öl-Fass Feuer und verabschiedete sich von ihnen. Justin und Shayen assen noch den verbliebenen halben Toast und schliefen ein. Als die beiden aufwachten, schien der Mond mega krass. Als sie begannen die «Toast-Brösmeli» zu suchen, fanden sie nichts. Irgendwelche angry Birds müssen sie gefressen haben. 24/7 liefen sie durch die Industriegassen und suchten den Weg zurück. Justin und Shayen waren müde und vor allem hungrig. Für die Snackautomaten hatten die beiden keine Bitcoins. Plötzlich entdeckten sie einen Schornstein mit… Schnee? Da stand doch wirklich ein Lebkuchenhaus mit süsser Schnee-Glasur. Das ganze Gebäude war vegan, glutenfrei, ohne Laktose, Faire Trade, mit natürlichem Farbstoff und ohne Konservierungsmittel. Justin biss eine Ecke des Daches ab und Shayen ging direkt aufs Fenster zu. Auf einmal hörten die beiden eine Stimme aus dem Haus: «Crispy crispy food, wer knuspert da an meiner hood?» Plötzlich kam eine steinalte, creepy Frau aus dem Haus, welche Anti-Aging-Creme dringend nötig hatte. Total geschockt standen Justin und Shayen vor ihr. Die Alte packte die beiden an den Händen und führte sie in ihre Stube. Da bekamen sie ein geiles Menu serviert: Chiasamen-Salat, danach ein Pasta One-Pot mit Feta und zum Dessert ein Low-Carb Zitronenkuchen. Vollgefressen legte sich das Geschwisterpaar in ihr freshes Bett und fielen in einen tiefen Schlaf.

Quelle: pexels.com, snapwire

Einmal Steamer bitte

Am nächsten Morgen weckte die Alte Shayen voll asozial und befahl ihr, Wasser zu holen. Justin dagegen wurde wochenlang mit Döner und Burger gefüttert. Zwischendurch ging die Alte immer Mal wieder nach Justin schauen. Sie tastete nach seinem Finger. Doch er hielt jede Woche aufs Neue einen alten Mini-Pick hin. Eines Tages hatte die alte Schreckschraube das Warten satt. Sie ging mit Shayen zum Steamer und befahl ihr, diesen vorzuheizen. Shayen stellte sich dumm. Die Alte machte angepisst den Steamer auf und stellte ihn selbst ein. Ohne zu zögern verpasste Shayen der Kannibalin einen Karate-Kid-Tritt. Sie machte den Steamer zu und die Alte wurde auf höchste Stufe weggedämpft. Shayen lief schnurstracks zu ihrem Bruder, öffnete den abgeschlossenen Ikea-Schrank und nahm ihn in die Arme. Sie wollten schnellst möglichst weg. Kurz vor Abflug entdeckte das Geschwisterpaar in einer Ecke Louis Vuitton Taschen, MacBooks und ON-Schuhe. Sie schnappten sich so viel sie tragen konnten und machten sich vom Acker. Wie von Zauberhand fanden sie nach einer Weile den Weg zurück durch das Industriegebiet nach Hause.

Reena Krishnaraja, 26.11.2021