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Das Theater im Kopf - ein lebendiger Museumsbesuch in der "Città irreale"

Die Città irreale erwacht zum Leben. Das Schauspielensemble des Theater St.Gallen verwandelt den Museumsbesuch in einen erlebnisreichen Hörgenuss. Auf dem 50-minütigen Rundgang durch die Kunstzone der Lokremise vergeht einem vor lauter Hören fast das Sehen.

In der lichtdurchfluteten Kunstzone der Lokremise wartet ein Museumsbesuch der speziellen Art auf seine Gäste. Wo vor über 100 Jahren Lokomotiven standen, finden jetzt die XXL-Kunstwerke der irrealen Stadt genügend Platz. Der riesige Raum und die hohen Fenster des ehemaligen Bahnwagendepots passen perfekt zur neuen Kunstaustellung “Città irreale“.

Mit den frisch desinfizierten Kopfhörern über den Ohren kann der Rundgang beginnen. Die Schauspieler*innen des Theater St.Gallen geben den Kunstwerken eine Stimme. In einem theatralen Audiowalk wird der Museumsbesucher alleine durch die Ausstellung geführt. Dass der Museumsbesuch mit dem Audioguide überhaupt zu Stande kommt, ist dem Coronavirus zu verdanken. Ursprünglich geplant war nämlich eine Theateraufführung in der “Città irreale” zum zehnten Geburtstag der Lokremise. Nadia Veronese, die Kuratorin des Kunstmuseums St.Gallen, hat uns am 4. Februar 2021, von der Planänderung erzählt. Videobeitrag

Kopfhörer auf und los geht’s

“Hallo Test Test Test, kann es losgehen?” Eine angenehm tiefe Männerstimme ertönt aus den Kopfhörern. “Nicken Sie kräftig mit dem Kopf, wenn Sie bereit sind.” Verwirrt schaue ich um mich. “Bin ich damit gemeint?” Beantworten kann ich mir diese Frage eigentlich auch gleich selbst. Ausser mir befindet sich niemand am Startpunkt des Rundgangs. Erst in 15 Minuten tritt der nächste Besucher seine Reise in die irreale Stadt an. Ich deute also ein unauffälliges Nicken an, denn irgendwie ist es mir peinlich der mysteriösen Stimme im Kopf Folge zu leisten. Den Besitzer der Stimme lerne ich aber erst später kennen, als ich im Postauto nach Hause die mitgenommene Broschüre durchblättere. Sie gehört dem Schauspieler Tobias Graupner, meinem akustischen Museumsdate. Gemeinsam begeben wir uns auf eine Entdeckungsreise durch die lebendige Kunstaustellung.

Verwanzte müffelnde Matratzen

Beim mit Matratzen ummantelten Kühlschrank bleiben wir stehen. “Hier leben Milliarden von Flöhen, Kakerlaken, Läusen und Bettwanzen.” Tobias macht mich mit den tierischen Bewohnern der “Matratzenzelle” von Bob Gramsmas bekannt. Es juckt mich schon beim Zuhören. Ekelhaft diese alten müffelnden Matratzen. Widerwillig öffne ich, auf Anweisung von Tobias, die Kühlschranktüre und setze mich auf den Stuhl in der engen Matratzenzelle. Die klapprige Kühlschranktür rastet ein. “Auf der Mauer, auf der Lauer sitzt ne kleine Wanze”. Umgeben von Krabbeltieren ertönt dieses schreckliche Kinderlied aus den Kopfhörern. Mir ist schlecht. Dankbar für mein wanzenfreies Bett verlasse ich die “Matratzenzelle”.

“Matratzenzelle” von Bob Gramsma, Bildquelle: Chiara Temmel, toxic.fm

Blindflug in der Città irreale

Die nächste Kunststation liegt hoch in der Luft. Die Stimme in meinem Kopf begleitet mich bis zum Eingang der “Swissair-Kabine” von Bob Gramsma. “Such dir einen Platz aus, ich warte auf dich”. Tobias Stimme verlässt meine Ohren. “Was? Wo wartest du auf mich?” Das würde ich ihn jetzt gerne fragen. Auf mich alleine gestellt, wähle ich den Fensterplatz. Die sonore Stimme von Tobias wird von einer knatternden Lautsprecherdurchsage abgelöst. “Willkommen, Bienvenue, Benvenuto auf dem Flug nach Genf.” Die Ankündigung der Stewardess verrät mir die angeflogene Destination. Die obligatorischen Sicherheitshinweise bleiben aus. Das aufgeregte Stimmenwirrwarr und das Starten der Turbinen wirken täuschend echt. Wir heben ab. Ich schaue aus dem Kabinenfenster und geniesse die Aussicht. Lange ist mir dieser friedvolle Anblick aber nicht gewährt. Wir stürzen ab. Dem Tod bin ich zum Glück von der Schippe gesprungen. Dank Tobias, meinem akustischen Retter in der Not.

“MD-11” von Bob Gramsma, Bildquelle: Chiara Temmel, toxic.fm

Nach meiner Nahtoderfahrung sehe ich ein Licht am Ende des “Tunnels” von Sarah Masüger. “Es heisst jetzt Abschied nehmen.” Neben mir steht Tobias und flüstert in mein rechtes Ohr. Ich folge seiner Wegbeschreibung raus aus dem Tunnel und zurück in die Wirklichkeit. Mein Museumsbegleiter verabschiedet sich und lässt mich in der Kunstzone der Lokremise stehen. Die Geräusche aus dem Kopfhörer verstummen. Ich ziehe sie ab. An der Kasse nimmt die Museumsangestellte meine Kopfhörer entgegen und desinfiziert sie wieder gründlich. “Ist ja klar, wegen der Läuse in der Matratzenzelle”, denke ich mir. Das Coronavirus habe ich für ganze 50 Minuten vergessen.

Chiara Temmel, 16.03.2021