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«Wieso dankbar sein?» – Gedanken eines ehemaligen Adoptivkindes

In den Augen von Tamara Kramer ist die bundesrätliche Anerkennung von Versäumnissen im Adoptionsverfahren ein Schritt in die richtige Richtung. Sie wurde in Sri Lanka in den 80er Jahren als Baby von einem Schweizer Ehepaar adoptiert. Was sie persönlich von den Leserkommentaren zur bundesrätlichen Anerkennung hält und warum sie nicht einfach dankbar sein will, das erklärt die zurzeit stark geforderte Pflegefachfrau während ihrer kurzen Mittagspause. 

«Wie soll ich für etwas dankbar sein, was ich mir nicht selbst ausgesucht habe und zudem einen schlimmen Hintergrund gehabt haben könnte», meint Tamara Kramer, Pflegefachfrau am Kantonsspital St. Gallen, spürbar bewegt. Mit diesen Worten reagiert sie auf den in den Leserkommentaren vorgebrachten Vorwurf, dass Adoptierte hier in der Schweiz viel mehr Dankbarkeit zeigen sollten, anstelle Forderungen aufzustellen. Für Tamara Kramer sind solche Aussagen unverständlich. Sie wisse schliesslich nicht, ob sie als Baby ihrer Mutter gestohlen worden sei. Auch wenn sie hier eine interessante Ausbildung machen durfte und in der Schweiz ein gutes Leben führe, zaubere das ihre Vergangenheit sowie ihren persönlichen Rucksack nicht einfach weg.

Grosse Erleichterung über die Anerkennung

Bildquelle: Tamara Kramer vor ihrem Geburtsspital in Sri Lanka//zVg Tamara Kramer

Tamara Kramer ist erleichtert über die Anerkennung des Bundesrates, dass schweizerische Behörden Adoptionen aus Sri Lanka nicht verhindert haben trotz gewichtiger Hinweise auf teilweise schwere Unregelmässigkeiten. Vor allem über das Zugeständnis des Bundesrates, den Adoptierten bei der Herkunfts- und Elternsuche zu helfen, ist die Pflegefachfrau sichtlich erfreut. Nach einer kurzen Pause erklärt sie ihre Freude mit folgenden Worten: «Es ist ein Kampf, seine unbekannten Eltern in einem fremden Land aufzuspüren. Das braucht sehr viel Energie. Daher ist jede Unterstützung willkommen.»

Gewisse Behauptungen sind eine grosse Frechheit

«Es ist eine riesengrosse Frechheit, so etwas zu behaupten. Das verletzt mich ungemein und nimmt mich sehr mit!», antwortet Tamara Kramer auf die Konfrontation mit weiteren Leserkommentaren zur Medienmitteilung des Bundesrates. Die Aussage, dass Adoptierte schliesslich aufgrund der Adoption das Recht hätten, in der reichen und schönen Schweiz leben zu dürfen und sich daher nicht beschweren sollten, regt die 39-Jährige besonders auf.  «Wer nimmt sich das Recht heraus, zu sagen, der Menschenhandel mit den Babys aus Sri Lanka sei deswegen gerechtfertigt. Personen, die sich so äussern, erkennen nicht, was damals passiert ist. Die Behörden haben konsequent weggeschaut und zudem wurde ein Mensch einfach entwurzelt», meint Tamara Kramer aufgebracht. Sie kann ihr Entsetzen über eine solche Aussage nicht verbergen. Zwar sei sie vom Herzen her gleich wie die Schweizer, aber äusserlich unterscheide sie sich. Dies bekomme sie im Alltag immer wieder zu spüren.

Verständnis gegenüber den Adoptiveltern

Auf den Vorwurf, dass es die Adoptiveltern doch nur gut gemeint hätten mit der Adoption und daher das bundesrätliche Einräumen eines Versäumnisses nicht gerechtfertigt sei, meint Tamara Kramer: «Ich sehe die Anerkennung des Bundesrates nicht als eine Beleidigung für die Adoptiveltern.» Verständnisvoll fügt sie an: «Die Adoptiveltern sind ja teilweise auch betrogen worden. Erst in den letzten Jahren wurde diese mit den Vorwürfen konfrontiert.» Daher vertraue sie den Adoptiveltern, im guten Glauben adoptiert zu haben.

Umfassende Hilfe wird erwartet

Bildquelle: Adams Peak in Sri Lanka//zVg Tamara Kramer

Tamara Kramer erhofft sich aufgrund dieser Anerkennung mehr Unterstützung von Seiten des Bundes. «Die Behörden sollen mir helfen, meine leiblichen Eltern in Sri Lanka zu finden. Zusätzlich soll uns Adoptierten auch finanziell bei der Suche nach unseren Eltern geholfen werden», fordert die 39-Jährige. Die Suche nach den Eltern sei sehr kostspielig, denke man nur an den Flug und die Kosten für den Aufenthalt im Land. Zudem wünsche sie sich schnellere und einfachere Einsicht in die eigenen Adoptionsunterlagen. «Diese Unterlagen sollen uns Adoptierten komplett und ohne Bedingungen ausgehändigt werden», meint Tamara Kramer bestimmt und ergänzt mit leicht verächtlichem Unterton, «ich musste als bald 40-Jährige für eine Einsicht in meine eigenen Adoptionsunterlagen erst eine Unterschrift meiner Eltern einholen.» Auch von den entsprechenden Ämtern in der Schweiz wie beispielsweise dem Amt für Soziales erwartet sie schnelleres und unkompliziertes Handeln.

Der grosse Wunsch, die eigene Mutter zu finden

Bildquelle: In der Wildnis//zVg Tamara Kramer

Natürlich lässt sich Tamara Kramer die Chance nicht entgehen, an dieser Stelle den Kommentarverfassern eine Botschaft zu hinterlassen: «Bevor ihr Aussagen zum Thema Adoption macht, setzt euch doch bitte mit den Fakten auseinander, versucht, die Hintergründe zu erschliessen und euch in die Position von Adoptierten hineinzuversetzen.» Diese oftmals unüberlegten Aussagen würden sie wie auch viele andere Adoptierte sehr treffen. Zudem wünscht sich die engagierte Pflegefachfrau von ganzem Herzen, dass der Bund das, was er den Adoptierten verspricht, auch wirklich umsetzt. In eindringlichem Ton fügt sie an: «Und dies möglichst zeitnah, denn, uns Adoptierten läuft die Zeit davon.» Umso mehr hofft Tamara Kramer darauf, ihre Mutter doch noch zu finden und wenn, dann lebend. Mit einem Lächeln meint sie, darüber wäre sie wirklich sehr dankbar.

Nicola Knüsel, 15.12.2020